Verwandte und Nachbarn

Abgesehen vom begrenzten unmittelbaren Familienkreis ist der nächste einigermaßen weitreichende gesellschaftliche Bereich der der Angehörigen und der Blutsverwandten. Diejenigen, die durch gemeinsame Eltern miteinander verwandt sind, oder durch gemeinsame Geschwister oder durch Verschwägerung, sollen einander nach islamischer Auffassung Zuneigung entgegenbringen, zusammenarbeiten, sich gegenseitig und hilfsbereit zur Seite stehen. An vielen Stellen im Qur′an wird die gute Behandlung der nahen Angehörigen zur Pflicht gemacht. In den Überlieferungen des Propheten (Friede sei mit ihm) wird die gute Behandlung der Verwandten hervorgehoben und unter die höchsten Tugenden eingereiht.
Auf jemanden, der seinen Verwandten die kalte Schulter zeigt oder sie gleichgültig behandelt, wird im Islam mit großer Missbilligung herabgesehen. Das soll aber nicht heißen, dass es eine islamische Tugend ist, gegen seine Verwandten parteiisch oder ungebührend nachsichtig zu sein. Eine derartige Unterstützung oder Parteilichkeit den Verwandten gegenüber, die möglicherweise zu Ungerechtigkeit führt, läuft dem Islam zuwider und wird als ein Akt der Dschahiliyyah (der Unwissenheit) verurteilt.
Ebenso ist es von einem Regierungsfunktionär oder Staatsbeamten höchst unislamisch, wenn er seine Verwandtschaft auf Kosten der Öffentlichkeit unterstützt oder in offiziellen Entscheidungen parteiisch ist; das wäre in der Tat ein Akt der Sünde. Eine gerechte Behandlung, die den Angehörigen gegenüber vom Islam vorgeschrieben wird, sollte auf eigene Kosten des Betreffenden gehen und die Grenzen von Anstand und Gerechtigkeit nicht überschreiten.
Nach den Verwandten kommen die Nachbarn. Der Islam hat sie in drei Gruppen unterteilt: (1) den Nachbarn, der gleichzeitig ein Verwandter ist, (2) den fremden Nachbarn und (3) den zufälligen oder zeitweiligen Nachbarn, mit dem man eine Zeitlang zusammen zu leben oder zu reisen Gelegenheit hatte. Sie alle verdienen es, dass wir mit ihnen fühlen, ihnen Zuneigung, Höflichkeit und anständige Behandlung entgegenbringen. Der Prophet (Friede sei mit ihm) hat gesagt, die Rechte des Nachbarn seien ihm vom Engel Gabriel so dringend ans Herz gelegt worden, dass er befürchtet habe, die Nachbarn würden zu Miterben eingesetzt.
In einer anderen Überlieferung sagte der Prophet (Friede sei mit ihm), dass derjenige, dessen Nachbar vor seinen Missetaten nicht sicher ist, kein Gläubiger im Islam sei. Ein anderes Mal sagte er, dass ein Mensch, der sich satt isst, während sein Nachbar hungert, nicht an den Islam glaubt. Dem Propheten (Friede sei mit ihm) wurde einst von einer Frau erzählt, die ihre Gebete stets regelmäßig zu verrichten pflegte, sehr oft fastete und häufig Almosen gab. Die Nachbarn aber hatten sehr unter ihrer bösen Zunge zu leiden.
Der Prophet (Friede sei mit ihm) sagte, eine solche Frau verdiene nichts anderes als das Höllenfeuer. Man erzählte ihm auch von einer anderen Frau, die zwar nicht so eifrig im Gottesdienst sei, aber auch ihre Nachbarn nicht verärgere, und der Prophet (Friede sei mit ihm) sagte, diese könne durchaus mit dem Paradies belohnt werden.
Der Prophet (Friede sei mit ihm) legte solchen Nachdruck auf gutnachbarliche Beziehungen, dass er riet, ein Muslim solle jedes Mal, wenn er für seine Kinder Früchte bringe, entweder einige davon seinen Nachbarn zum Geschenk machen oder aber wenigstens die Schalen nicht vor die Tür werfen, damit bei den Nachbarn kein Gefühl der Entbehrung aufkommen könne.
Bei einer anderen Gelegenheit sagte der Prophet (Friede sei mit ihm), dass ein Mensch wirklich gut sei, wenn seine Nachbarn ihn für gut erachten und dass er schlecht sei, wenn sie so von ihm denken. Der Islam verlangt also, dass alle Nachbarn zueinander freundlich und hilfsbereit seien und ihre Nöte und Freuden miteinander teilen sollen.
Er erlegt ihnen auf, dass sie gesellschaftliche Beziehungen zueinander unterhalten sollen, in denen sich einer auf den anderen verlassen und jeder sich in Hinblick auf sein Leben, seine Ehre und seinen Besitz unter seinen Nachbarn sicher fühlen kann. Eine Gesellschaft, in der zwei nur durch eine Mauer voneinander getrennte Menschen, die im selben Ortsteil leben, kein Interesse füreinander und kein Vertrauen zueinander haben, kann nie islamisch genannt werden.
Nach den Nachbarn kommt der erweiterte Kreis von zwischenmenschlichen Beziehungen, der die gesamte Gesellschaft umfasst. Die wichtigsten Grundsätze, auf denen der Islam unser gesellschaftliches Leben zu regeln sucht, sind folgende:
  1. «Das Zusammenarbeiten in tugendhaften und frommen Taten, nicht aber in sündigen und ungerechten.»
  2. «Unsere Freundschaft und unsere Feindschaft sollte nur um des göttlichen Wohlgefallens willen bestehen; was immer ihr (Muslime) verschenkt, verschenkt es, weil Gott möchte, dass es verschenkt wird, und was immer ihr (Muslime) behaltet, behaltet es, weil Gott nicht wünscht, dass es zum Geschenk gemacht wird.» (Ausspruch des Propheten, Friede sei mit ihm).
  3. «Ihr Muslime seid die beste Gemeinschaft, die je in der Menschheit erstand; eure Pflicht ist es, den Menschen zu befehlen, Gutes zu tun, und sie daran zu hindern, Übles zu begehen».
  4. «Denkt nicht schlecht voneinander, spioniert auch nicht in euren gegenseitigen Angelegenheiten herum, noch hetzt den einen gegen den andern auf; hütet euch vor gegenseitigem Hass und vor Eifersucht; widersetzt euch einander nicht unnötig. Bleibt stets Allahs Diener und Untergebene und lebt untereinander wie Brüder».
  5. «Helft keinem Tyrannen, von dem ihr wisst, dass er einer ist».
  6. «Die Gemeinschaft zu unterstützen, wenn sie sich auf dem falschen Weg befindet ist, als fiele man in einen Brunnen, während man sich am Schwanz seines Kamels festzuhalten versucht, das gerade im Begriff ist, hineinzufallen».
  7. «Suche für andere das aus, was du für dich selbst ausgesucht hättest».
Dies sind einige der vom Islam bestätigten und eingeführten gesellschaftlichen Werte, die er in der menschlichen Gemeinschaft verwirklicht sehen möchte.

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