Der Glaube: Wesen und Charakteristika

Wir haben vorstehend die grundsätzlichen Voraussetzungen des Islam behandelt, die einerseits den Plan erläutern, nach dem Gott dem Menschen Rechtleitung in dieser Welt zuteil werden lässt, und andererseits das Wesen des Menschen und seine Stellung sowie den Sinn seines Daseins auf Erden bestimmen.
Nun kommen wir zur Untersuchung der Grundlagen, auf denen der Qur′an das Verhältnis des Menschen zu Gott zu entwickeln sucht, und der Lebensauffassung, die sich ganz natürlich aus diesem Verhältnis ergibt. Der Qur′an befasst sich vielfach mit diesen Grundfragen, doch die insgesamt in ihm dargelegte Lebensauffassung findet ihren höchsten Ausdruck in dem folgenden Vers: «Wahrlich, Gott hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut erkauft für den Garten, der ihnen zuteil werden soll; sie kämpfen für Gottes Sache, sie töten und fallen – eine gewisse Verheißung, Pflicht Seiner Selbst in der Thora und im Evangelium und im Qur′an. Und wer hält seine Verheißung getreuer als Gott? So freut euch des Handels, den ihr mit Ihm gemacht habt; denn dies fürwahr, dies ist die höchste Glückseligkeit.» 4
In dem hier angeführten Vers wird das Verhältnis, das zwischen dem Menschen und Gott durch den Glauben (arabisch Iman, das heißt, durch das ) entsteht, als charakterisiert. Das bedeutet, dass der Glaube an Gott nicht lediglich eine metaphysische Vorstellung ist; er ist vielmehr seinem Wesen nach ein Vertrag, durch den der Mensch sein Leben und sein Hab und Gut bei Gott gegen das Paradies im jenseitigen Leben eintauscht. Gott erkauft also sozusagen Leben und Eigentum des Gläubigen und verspricht ihm dafür als Preis die Belohnung des Paradieses im Leben nach dem Tod. Dieser Begriff des Handels zieht wichtige Folgerungen nach sich und wir sollten darum zunächst einmal ganz einverstehen.
Unbestreitbare Tatsache ist, dass absolut alles in dieser Welt Gott gehört. Er ist der wirkliche Eigentümer aller Dinge. Folglich gehören auch Leben und Besitz des Menschen, die ein Teil dieser Welt sind, Ihm, denn Er ist es, Der sie erschaffen hat und Er ist es, Der sie jedem Menschen zu seinem Gebrauch zugeteilt hat.
Wenn man das Problem von diesem Blickwinkel aus betrachtet, erhebt sich die Frage irgendwelchen Verkaufs oder Kaufs überhaupt nicht. Gott ist der tatsächliche Eigentümer; darum gibt es ein Kaufen dessen, was schon Sein ist, eigentlich nicht: der Mensch ist nicht der wirkliche Besitzer, darum steht ihm auch nicht das Recht des Verkaufens zu. Doch es gibt eines, was dem Menschen übertragen worden ist und ihm nun ganz und gar gehört, und das ist sein freier Wille, die Freiheit, sich dafür zu entscheiden, den Weg Gottes zu befolgen oder nicht.
Da der Mensch in dieser Hinsicht mit freiem Willen ausgestattet worden ist, steht es ihm frei, die wirklichen Gegebenheiten anzuerkennen oder nicht anzuerkennen. Obwohl die Willens- und Entscheidungsfreiheit, die der Mensch besitzt, ihn nicht automatisch zum tatsächlichen Besitzer all der Kräfte und Hilfsmittel macht, die ihm zur Verfügung stehen, und er auch nicht das Recht hat, sich ihrer vollkommen willkürlich zu bedienen, und obwohl seine Anerkennung der letztlichen Wirklichkeit oder seine Weigerung, sie anzuerkennen, diese Wirklichkeit als solche in keiner Weise beeinträchtigt, so bedeutet es doch, dass es ihm freisteht, die Oberherrschaft Gottes anzuerkennen sowie Seine Verfügungsgewalt über das eigene Leben und Eigentum, oder aber dass er sich weigert, diese anzuerkennen und sich anmaßt, es stehe ihm völlige Unabhängigkeit zu. Er kann, sofern er will, sich als frei von jeglichen Verpflichtungen seinem Herrn gegenüber betrachten und meinen, dass ihm sämtliche Rechte und die Herrschaftsgewalt über alles zustehe, was er hat, und dass er sich daher all dessen seinen eigenen Wünschen entsprechend bedienen könne, ohne dass ein höheres Gesetz ihm Beschränkungen auferlegt.
Doch hier kommt die Frage des Tauschhandels nun ins Spiel: dieser Tauschhandel bedeutet nicht, dass Gott etwas einhandelt, was dem Menschen gehört, vielmehr verhält es sich in Wirklichkeit so: die gesamte Schöpfung gehört Gott, doch hat Er dem Menschen gewisse Gaben mitgegeben, damit er sich ihrer als von Gott Anvertrautem bediene.
Und dem Menschen wurde die Freiheit eingeräumt, dies ihm Anvertraute aufrichtig zu verwalten, sofern er dies wünscht, oder aber das Vertrauen zu hintergehen und die Gaben zu missbrauchen. Gott verlangt nun, dass der Mensch bereitwillig und aus freien Stücken (und nicht unter Druck oder Zwang) die Dinge als die Seinen anerkenne, die Ihm auch tatsächlich gehören, und dass er sie als von Gott Anvertrautes benutze und nicht als etwas ihm Gehörendes, dessen er sich so bedienen kann, wie es ihm beliebt. Daher veräußert ein Mensch, der freiwillig darauf verzichtet, von der Freiheit, Gottes Oberherrschaft zu bestreiten, Gebrauch zu machen und stattdessen Seine Herrschaftsgewalt anerkennt, sozusagen eine Unabhängigkeit (die ja auch eine Gabe Gottes ist und nicht etwas, was er aus sich selbst heraus erlangt hat) an Gott und erhält dafür von Gott als Gegengabe das Versprechen der ewigen Glückseligkeit, die das Paradies ist.
Ein Mensch, der einen solchen Tauschhandel eingeht, ist ein Gläubiger, ein Mu′min und Iman (Glaube) ist der islamische Name für diesen Handelsvertrag; während derjenige, der nicht bereit ist, einen solchen Vertrag einzugehen oder, nachdem er diesen Vertrag abgeschlossen hat, ein Verhalten an den Tag legt, das dazu im Widerspruch steht und einem krassen Vertragsbruch gleichkommt, ein Ungläubiger oder Kafir ist und sein Versuch, den Vertrag zu umgehen oder abzuändern, mit dem Begriff Kufr (Unglaube) bezeichnet wird.
Das also ist die Bedeutung dieses Vertrages, sein Wesen. Nun wollen wir kurz die verschiedenen Aspekte und Bedingungen desselben untersuchen.
  1. Gott hat uns in zweierlei Hinsicht einer sehr schwerwiegenden Prüfung unterworfen:
    1. Er hat dem Menschen freie Willensentscheidung mitgegeben, doch selbst nachdem Er ihm diese Freiheit eingeräumt hat, möchte Er sehen, ob der Mensch seine tatsächliche Lage erkennt oder nicht, ob er aufrichtig und standhaft bleibt und seinem Herrn gegenüber Redlichkeit und Treue beibehält, oder ob er den Kopf verliert und sich gegen seinen eigenen Schöpfer auflehnt, ob er sich edelmütig verhält oder sämtliche Regeln des Anstands mit Füßen tritt 5.
    2. Er möchte sehen, ob der Mensch bereit ist, so viel Vertrauen in Gott zu setzen, dass er sein Leben und seinen Besitz hingibt für das, was nichts anderes als ein Versprechen ist, das erst in der künftigen Welt Form annehmen wird und ob er bereit ist, seine Unabhängigkeit und all die Annehmlichkeiten aufzugeben, die damit zusammenhängen, im Tausch gegen ein Versprechen für die Zukunft.
  2. Es ist ein allgemein anerkannter Grundsatz des islamischen Rechts, dass der Glaube (Iman) in der Befolgung einer gewissen Anordnung von Lehren besteht und dass der, der an diese Lehren glaubt, ein Mu′min (ein Gläubiger) wird. Niemand hat das Recht, einen solchen Menschen als nicht-Gläubigen zu bezeichnen oder ihn aus dem Kreis der Ummah (der Gemeinde) auszuschließen, es sei denn, es gäbe einen eindeutigen Beweis für die Unrichtigkeit des Glaubens oder die Abwendung von ihm. Dies ist der gesetzliche Aspekt des Problems. Doch in den Augen Gottes ist nur der Iman wertvoll, der in der vollkommenen Unterwerfung des eigenen Willens und der eigenen freien Wahl unter den Willen Gottes besteht. Es ist ein Zustand des Denkens und der Tat, in dem der Mensch sich völlig Gott unterwirft und auf jeglichen Anspruch auf seine eigene Oberherrschaft verzichtet. Es ist etwas, das vom Herzen kommt. Es ist eine Geisteshaltung, und es bereitet den Menschen auf eine bestimmte Handlungsweise vor.
    Wenn jemand die Kalima 6 ablegt, in den Vertrag eintritt und auch wenn er dann seine Gebete verrichtet und andere gottesdienstliche Handlungen vollbringt, sich selbst aber im Herzen als den Eigentümer seiner körperlichen und geistigen Kräfte und seiner moralischen und materiellen Mittel betrachtet und meint, uneingeschränkt über sie verfügen zu können, dann wird er in den Augen Gottes zu einem Ungläubigen, gleichgültig für was für einen großartigen Mu′min die Menschen ihn auch halten mögen. Denn er ist in Wirklichkeit nicht wirklich den Handel eingegangen, der nach dem Qur′an das Wesen des Iman ausmacht.
    Gebraucht ein Mensch seine Kräfte und Fähigkeiten nicht in der ihm von Gott vorgeschriebenen Weise und verwendet er sie stattdessen für von Gott verbotene Beschäftigungen, so zeigt das deutlich, dass er entweder sein Leben und seinen Besitz nicht Gott verpfändet hat, oder aber, dass er selbst nachdem er sie Ihm verpfändet hat, sein Gelöbnis durch sein Verhalten zunichte macht.
  3. Diese Charakteristika des Imans unterscheiden die islamische Lebensweise von der unislamischen, ja, machen sie eigentlich zu deren genauem Gegenteil. Ein Muslim, der wahrhaft an Gott glaubt, unterwirft sich in jeder Hinsicht dem Willen Gottes. Sein ganzes Dasein ist getragen von Gehorsam und Ergebung, nie benimmt er sich anmaßend oder selbstherrlich, es sei denn aus augenblicklicher Unachtsamkeit. Nach einem solchen Fehlverhalten wendet er sich – sobald er sich dessen bewusst wird – wieder seinem Herrn zu und bereut seinen Irrtum aufrichtig.
    Ebenso kann eine Gruppe von Menschen oder eine Gesellschaft, die aus echten Muslimen besteht, niemals vom Gesetz Gottes abfallen. Ihre politische Ordnung, ihre soziale Organisation, ihre Kultur, ihre Wirtschaftspolitik, ihre Gesetzesordnung und ihr Vorgehen auf internationaler Ebene müssen samt und sonders mit den von Gott offenbarten Anweisungen übereinstimmen und dürfen in keinerlei Widerspruch dazu stehen. Und wenn je durch einen Irrtum oder eine Unterlassung eine Zuwiderhandlung begangen wurde, müssen sie diese, sobald es ihnen klar wird, unverzüglich korrigieren und fortan zum Zustand der Unterordnung unter das Gesetz Gottes zurückkehren.
    Es ist Art der Ungläubigen, sich an Gottes Leitung nicht gebunden zu fühlen und sich so zu benehmen, als ob sie ihr eigener Herr seien. Wer immer einen solchen Weg einschlägt, schreitet auf dem Pfad des Bösen und folgt den Bahnen der Ungläubigen, selbst wenn er einen Namen trägt wie ein Muslim.
  4. Der Wille Gottes, den zu befolgen des Menschen Pflicht ist, wurde von Gott selbst zur Rechtleitung der Menschen offenbart. Was der Wille Gottes ist, das zu unterscheiden ist nicht Sache des Menschen. Vielmehr hat Gott selbst ihn klar und deutlich verkündet und es gibt nichts Zweideutiges daran. Deshalb müssen der Mensch oder die Gesellschaft, die es mit ihrem Vertrag mit Gott ehrlich meinen und standhaft sind, ihr gesamtes Leben in genauester Übereinstimmung mit dem Buche Gottes und der Sunnah des Propheten (Friede sei mit ihm) gestalten.
    Ein wenig Nachdenken wird zeigen, dass diese Gesichtspunkte und Bestimmungen logischerweise in den Handel eingeschlossen sind und aus der obigen Darlegung ergibt sich auch klar, warum die Bezahlung des «Preises» auf das Leben nach dem Tode verschoben worden ist.
    Das Paradies ist nicht die Belohnung für die bloße Anerkennung des Tauschhandels, es ist die Belohnung für seine getreue Ausführung. Wird der Vertrag nicht voll erfüllt und entspricht die tatsächliche Lebensweise des «Händlers» nicht den vertraglichen Bedingungen, hat er kein Anrecht auf die Belohnung.
    Somit findet der endgültige «Verkauf» erst im letzten Augenblick des Lebens des Verkäufers seinen Abschluss und darum ist es natürlich, dass ihm die Belohnung im jenseitigen Leben zuteil wird.
    Es gibt noch einen weiteren, wichtigen Punkt, der beim Durchlesen des oben zitierten Verses zutage tritt, sofern er in seinem gesamten Zusammenhang Gültigkeit haben soll. Die ihm vorangehenden Verse bezogen sich auf die Menschen, die sich zum Glauben bekannten und ein Leben des Gehorsams versprachen, sich aber als der Aufgabe nicht gewachsen erwiesen, wenn die Stunde der Prüfung kam. Einige vernachlässigten ihre unmittelbaren Pflichten und übten Verrat an der Sache.
    Andere verlegten sich auf heuchlerische Tricks und weigerten sich, ihr Leben und ihren Besitz für die Sache Gottes hinzugeben. Der Qur′an weist, nachdem er diese Menschen entlarvt und ihre Unaufrichtigkeit anprangert, eindeutig darauf hin, dass der Glaube ein Vertrag ist, eine Art Gelöbnis zwischen dem Menschen und Gott. Er besteht nicht aus der bloßen Erklärung, dass man an Gott glaubt. Er ist die Anerkennung der Tatsache, dass Gott allein unser unumschränkter Herr und Herrscher ist, und dass alles, was der Mensch besitzt, also auch sein Leben, Ihm gehört und in Übereinstimmung mit Seinen Anweisungen eingesetzt werden muss. Schlägt ein Muslim eine der entgegenlaufenden Richtung ein, dann ist er in seinem Glaubensbekenntnis unaufrichtig.
    Wahre Gläubige sind nur diejenigen, die wirklich ihr Leben und alles, was sie besitzen, an Gott veräußert haben, und die Seinen Vorschriften in allen Tätigkeitsbereichen Folge leisten. Sie setzen alles, was sie haben, auf den Gehorsam gegenüber den Vorschriften ihres Herrn und weichen auch nicht einen Zoll vom Weg der Treue gegen Gott ab. Dies allein sind die wahren Gläubigen.

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